Zu einer jeden Sure findet der Leser Folgendes: Die Wiedergabe des arabischen Textes in lateinischer Umschrift, sodann die deutsche Übersetzung; hiernach werden die Komposition der Sure und zugleich der thematische Aufbau dokumentiert; es schliesst sich der wiederum auf die Transkription der Sure zurückgreifende «kursorische Verskommentar» an, der philologische Bemerkungen zu einzelnen Versen und Versgruppen bietet, die in der bisherigen Forschung zu finden sind, aber auch inhaltliche und wörtliche Parallelen zu anderen Suren verzeichnet. Es folgen die entwicklungsgeschichtliche Einordnung der Sure sowie der Überblick über deren Inhalt und Struktur, mithin eine Wiederholung der in den Abschnitten über die Komposition und die kursorische Kommentierung gewonnenen Einsichten, jedoch unter veränderter Blickrichtung: Die Bedeutung der betreffenden Sure für die Gesamtheit des Korans soll sichtbar werden.
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Die Erforschung der Geschichte der religiösen Vorstellungen Mohammeds wird beträchtlich gefördert. Die Verfasserin erhofft sich aber noch mehr. Sie hebt hervor, dass ihr Ansatz einer historisch-kritischen Auslegung des von Mohammed durchlebten Offenbarungsgeschehens durch und durch europäisch ist.
Jegliche muslimische Koran-Auslegung setzt demgegenüber stillschweigend voraus, dass der Koran so, wie er uns zur Verfügung steht, nicht von einem historischen Vorgang zeugt, sondern das vor aller Zeit abgeschlossene Korpus der ewig wahren göttlichen Rede ist, die sämtliche Angelegenheiten des Diesseits ein für alle Mal regelt (vgl. Sure 16, 89). Alle Aussagen müssen demnach untereinander widerspruchsfrei sein. Muslime haben Methoden ersonnen, mit denen gegen dieses Prinzip verstossende Textbefunde sozusagen weginterpretiert werden.
Das, was Neuwirth insbesondere unter der Rubrik «Sprecher-Hörer-Interaktion» zu erfassen sucht, ist muslimischen Koran-Kommentatoren unbekannt und wäre für sie geradezu ein Horror. Trotzdem hält die Verfasserin es für möglich, die historisch-kritische Koran-Auslegung «auf Augenhöhe» mit der muslimischen zu betreiben, der es darauf ankommt, aus den Aussagen des Korans verbindliche Normen des Handelns und Denkens abzuleiten.
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Hoffnung setzt Neuwirth auf die Fachvertreter und Absolventen der an einigen deutschen Universitäten eingerichteten islamischen Theologie. Sie sollten sich von der «Darstellung der theologischen Entwicklung der koranischen Verkündigung allein auf der Grundlage des Koran-Texts» angesprochen fühlen. Aus Verlautbarungen der Betroffenen weiss man jedoch, dass es ihnen vor allem darauf ankommt, Geschick in der Verteidigung des Islams gegen europäische Denkzumutungen zu erwerben. Wie einschlägige Curricula inzwischen belegen, versteht man auch in ihren Kreisen unter Kora-Interpretation nichts anderes als eben das Aufspüren göttlicher, d. h. nicht mehr der Notwendigkeit einer Verteidigung durch «innerweltliche» Argumente ausgesetzter Aussagen. Es mag aber sein – und das wäre zu wünschen –, dass der Handkommentar allmählich unter geistig beweglichen Muslimen eine subversive, das bequeme Rechthaben in Frage stellende Wirkung entfalten wird.
http://www.nzz.ch/magazin/buchrezension ... 38296.html
Das hört sich sehr interessant an!
