Lassen wir Al-Ghasali zu Wort kommen, dessen Ratschläge zum Miteinanderleben heute genau so gültig sind wie zu seinen Lebzeiten um das Jahr 1100. Obwohl er einer der größten Gelehrten in der Geschichte des Islam war, ist es die Schlichtheit in dem, was er zu sagen hat, die ihn zum beispielhaften Spiegelbild islamischer Größe macht:
Aus Al-Ghasali DAS ELIXIER DER GLÜCKSELIGKEIT übers, v: H. Ritter, Diederichs- Verlag, Düsseldorf- Köln, 1959:
Die Pflicht der Zunge ist bald eine Pflicht zum Schweigen, bald eine Pflicht zum Reden.
Die Pflicht zum Schweigen besteht darin, dass du von den Fehlern des Bruders schweigst, sei es in seiner Gegenwart, sei es, wenn er fern ist, sondern tust, als ob du nichts davon wüsstest; ferner darin, dass du nicht widerredest dem, was er sagt und nicht mit ihm streitest noch richtest, und dass du ihn nicht aushorchst noch ausfragst nach dem, was er gern geheim halten will. Wenn du ihn auf der Straße triffst oder mit etwas beschäftigt siehst und er nicht von selbst mit dir zu reden anfängt über das, was er vorhat, woher er kommt und wohin er geht, so solltest du nicht danach fragen. Denn vielleicht wäre es ihm lästig, davon zu reden, oder er müsste dir eine Lüge sagen. Du sollst Stillschweigen bewahren über das, was der Bruder dir anvertraut und keinem jemals etwas davon sagen, auch nicht deinem nächsten Freunde,auch nicht nach einem Bruch oder Zerwürfnis mit dem Bruder, denn das ist niedrig und gemein. Und du sollst seine Freunde und sein Weib und Kind nicht tadeln oder schmähen, auch den Tadel anderer nicht hinterbringen; denn der Zuträger der Schmähung ist selbst ein Schmäher.
Auch der Prophet pflegte, wie Anas berichtet, niemandem das ins Gesicht hinein zu sagen, was ihm zuwider sein musste...
Du sollst aber dem Bruder auch das Lob nicht verhehlen, das du über ihn hörst, denn auch die Freude am Lob kommt zuerst vom Überbringer, dann erst von dem Urheber des Lobes...
Du sollst also jegliches Reden, das dem Bruder zuwider ist, unterlassen, sei es lang oder kurz, es sei denn, dass du ihn in einer Sache zum Rechten ermahnen und vom Unrecht abhalten musst und dir das Gesetz nicht zu schweigen erlaubt. Dann gilt es gleich, ob es ihm angenehm oder zuwider ist, denn dann erweist du ihm in Wirklichkeit eine Wohltat, wenn es ihm auch als Übeltat erscheinen mag...
Auch bedenke: Wenn du einen Menschen suchst, der von allen Fehlern frei ist, so bedeutet das den Verzicht auf jede Gesellschaft mit Menschen, denn dann wirst du nie einen Menschen finden, mit dem du umgehen kannst. Jeder Mensch hat Tugenden und Fehler, und wenn die Vorzüge die Fehler überwiegen, so ist dies das Äußerste, was du verlangen kannst...
Dein Bruder hat vielmehr ein Recht darauf, dass du sein Tun nie zum Schlechten auslegst, solange es dir möglich ist, es zum Guten auszulegen... Denn Schlechtdenken von anderen ist üble Nachrede mit dem Herzen, und auch dies ist uns untersagt... Der Gesandte Gottes sagt: Wer die Blöße seines Bruders bedeckt, den bedeckt Gott in dieser und in jener Welt. ... Der Fehltritt deines Freundes kann entweder in einer Sünde gegen Gott oder in einem Vergehen gegen dich durch Verletzung der Bruderpflicht bestehen. Sündigt er gegen Gott und beharrt bei dieser Sünde, so sollst du ihn freundlich ermahnen und versuchen, das Krumme gerade zu richten und ihm wieder zurecht zu helfen.
Ob man aber, wenn das nicht gelingt, und er doch bei seinem Tun beharrt, die Pflicht der Liebe weiter erfüllen oder abbrechen solle, darin sind die Gefährten des Propheten und ihre Nachfolger verschiedener Meinung gewesen... Man erzählt von zwei Freunden aus der alten Zeit, von denen der eine den rechten Weg verließ. Da fragte man den anderen, ob er nicht mit ihm brechen und ihn verlassen wolle. Er aber antwortete: Das, was er am meisten von mir nötig hat in dieser Zeit, da er gestrauchelt ist, ist dass ich seine Hand fasse und ihm freundlich zurede und für ihn bitte, damit er auf den rechten Weg zurückkehrt. ... Der Grund für das Schließen eines Bruderbundes ist doch der, dass man einander weiterhelfen will auf dem Weg zu Gott.
http://home.arcor.de/muslimeindeutschla ... kraft.html
Eine, wie ich denke, sehr schöne und für mich auch schlüssige Interpretation. Diesen Verhaltenskodex sehe ich als grundsätzlichen Bestandteil meines Glaubens. Und in diesem Kontext verstehe ich inzwischen auch das doch sehr verbreitet als "Predigergehabe" empfundene Ermahnen. Ich betrachte es inzwischen aus einem anderen Blickwinkel. Zumindest bin ich darum bemüht.